Gemeinsam Kinderträume wachsen lassen

Was bedeutet es, Kinder in ihrer persönlichen und sozialen Entwicklung zu fördern? 

Jasmin Taubensee: Erstmal lernen wir die Kinder kennen: Was bewegt die Kinder? Was wünschen sie sich? Gibt es Sorgen oder Unsicherheiten? Viele bringen ihre Themen ganz von selbst mit. Ich denke an einen Jungen, der seit mehreren Jahren regelmäßig hier ist - anfangs sehr krawallig, laut, unsicher. Das hat ein Jahr gedauert, bis er richtig angekommen ist. Heute gehört er zu den älteren Kindern, trägt bei und erzählt uns, was ihn bedrückt. Die Kinder lernen hier, über ihre Gefühle zu sprechen. 

Frank Bonk: Kinder in ihrer persönlichen und sozialen Entwicklung zu fördern bedeutet für uns zunächst, jedes einzelne Kind aufmerksam zu beobachten: Wo liegen seine Stärken, wo gibt es Entwicklungsbedarfe? Nur so können wir gezielt und individuell unterstützen. Dabei tragen alle Mitarbeitenden eine große Verantwortung, jedes Kind bestmöglich zu begleiten. Ein zentrales Prinzip ist, jedes Kind so anzunehmen, wie es ist - unabhängig von familiärer Herkunft, Religion oder Nationalität. 

Wann spüren Sie, dass Ihre Arbeit etwas bewirkt?

Bonk: Wenn ich sehe, wie sich das Verhalten der Kinder positiv verändert - wenn aus anfangs zurückhaltenden oder unsicheren Kindern selbstbewusste Persönlichkeiten werden, die mutig ihre Meinung sagen, Konflikte lösen können und auf andere zugehen. Das sind für mich ganz klare Zeichen, dass unsere pädagogische Arbeit Früchte trägt. Besonders berührend ist es für mich, wenn ehemalige Kinder, die wir vor vielen Jahren betreut haben, heute als Erwachsene mit ihren eigenen Kindern wieder zu uns ins Kinderzentrum kommen - weil sie uns vertrauen und wissen, welchen Wert eine gute Förderung hat. Nach 34 Jahren hier im Kinderzentrum ist das für mich die schönste Bestätigung: zu sehen, dass sich der Kreis schließt und dass unsere Arbeit langfristig Spuren hinterlässt.  

Taubensee: Wenn Kinder plötzlich selbst Lösungen finden oder sich trauen, Hilfe zu holen - das sind starke Momente. Oder wenn Ehemalige zu Besuch kommen. Einer hat mir kürzlich erzählt, wie sehr ihm ein einziger Nachmittag mit gemeinsamem Kuchenbacken in Erinnerung geblieben ist. Das ist mittlerweile zehn Jahre her und war der letzte Tag in meinem ersten Praktikum hier im Spielhaus. 

Wie gestalten Sie gemeinsames Wachsen und Lernen? 

Taubensee: In unseren festen Gruppen - zum Beispiel am Mittwoch beim Mädchentag oder donnerstags in der Jungengruppe - nehmen wir uns gezielt Zeit für Gespräche. Da geht es um Selbstbehauptung, um den Umgang mit Konflikten oder auch darum, was Kinder tun können, wenn sie im Stadtteil auf Menschen treffen, die alkoholisiert oder unter Drogeneinfluss stehen. Das ist hier realer Alltag und Prävention bedeutet: Kinder handlungsfähig machen, ihnen aufzuzeigen, wo sie Hilfe bekommen. 

Bonk: Gemeinsames Wachsen und Lernen zeigt sich bei uns in den täglichen Begegnungen. Jedes Kind wird mit seinem Vornamen begrüßt. Wir hören aufmerksam zu, nehmen die Kinder ernst und begleiten sie im Alltag mit Wertschätzung.  

Wie gestalten die Kinder die Einrichtungen mit? 

Taubensee: Die Kinder entscheiden mit uns, was wir backen, welche Projekte wir angehen, wie die Räume aussehen. Viele sind anfangs überrascht, dass sie hier wirklich die Stühle umstellen, das Sofa verrücken dürfen. Das kennen sie von zuhause oder aus der Schule nicht. Auch Neuanschaffungen gehen auf die Wünsche der Kinder zurück. Das große Fahrzeug auf dem Hof zum Beispiel. Das konnte nur durch Spenden finanziert werden und dafür sind wir als Team sehr dankbar. 

Bonk: Die Kinder gestalten unsere Einrichtung aktiv mit und das auf ganz vielfältige Weise. Ausflüge, Aktionen im Haus oder Ferienfreizeiten werden gemeinsam mit ihnen geplant. Besonders in den Ferien ist das deutlich spürbar: Es gibt kein festes, vorgegebenes Programm. Stattdessen setzen wir uns jeden Morgen mit den anwesenden Kindern zusammen, besprechen ihre Wünsche und Interessen und stimmen gemeinsam ab, was wir an dem Tag machen möchten. So erleben die Kinder, dass ihre Meinung zählt und dass sie aktiv mitentscheiden können. Sie lernen, Kompromisse einzugehen und gemeinsam Lösungen zu finden. 

Welche Bedeutung hat der gemeinsame Mittagstisch für die Kinder in der Einrichtung? 

Bonk: Viele Kinder müssen morgens allein aufstehen, sich selbst etwas zu essen zubereiten, und auch nach der Schule fehlt oft eine warme Mahlzeit - ebenso wie jemand, der ihnen zuhört. Unser wichtigstes Ziel ist es deshalb, Kindern aus Linden-Süd täglich eine regelmäßige, gesunde Mahlzeit anzubieten. Denn in vielen Familien wird kaum noch selbst gekocht. Stattdessen kommen häufig Fertiggerichte aus Dosen oder der Tiefkühltruhe auf den Tisch. 
Das zeigt sich auch bei Tagesausflügen: Wenn Kinder selbst etwas zu essen und zu trinken mitbringen sollen, besteht ihr Proviant häufig aus Chips, Schokoriegeln und Keksen. Getrunken wird meist Cola oder gesüßter Saft aus dem Tetrapack. 
Ein ausgewogener Speiseplan mit vitaminreicher Kost trägt nicht nur zu einer gesunden und abwechslungsreichen Ernährung bei - gerade in Kindheit und Jugend ist er entscheidend für die körperliche Entwicklung. Beim gemeinsamen Kochen und Essen lernen Kinder außerdem, Lebensmittel wertzuschätzen und bewusst mit ihnen umzugehen. 

Taubensee: Für einige Kinder ist das Mittagessen bei uns die einzige "richtige" Mahlzeit des Tages. Besonders zum Monatsende, wenn das Geld knapp wird, ist es für viele Familien beruhigend zu wissen, dass ihre Kinder sich bei uns satt essen können. Zwar erheben wir einen kleinen Teilnahmebeitrag von 50 Cent pro Tag, aber wir rechnen damit, dass wir den Beitrag von manchen Familien nicht bekommen werden. 
Darüber hinaus ist das gemeinsame Mittagessen ein wertvoller Moment am Tag. Nach der Schule zusammen am Tisch zu sitzen, schafft Raum für Austausch: über das Wochenende, den Schultag, Pläne für den Nachmittag oder welche Spiele und Aktionen anstehen. In dieser entspannten Atmosphäre entsteht ein gemütlicher und zwangloser Gesprächsaustausch. 

Warum sind gemeinsame Ausflüge/ Freizeitangebote für die Kinder so wichtig? 

 Taubensee: Viele Ausflüge und Freizeitangebote sind leider mit Eintrittskosten oder teuren Fahrkarten verbunden. Das Spielhaus erhebt hierfür nur einen kleinen Beitrag. Der Restbetrag läuft über das Budget der Einrichtung. So können auch Kinder aus Familien mit wenig Geld an den Aktionen teilnehmen. Doch auch kostenfreie Angebote werden den Kindern durch gemeinsame Ausflüge nähergebracht. Sie erleben dabei, dass ein schöner Tag nicht unbedingt Geld kosten muss. Oft erzählen sie anschließend zu Hause davon und besuchen die Orte später gemeinsam mit ihren Familien. 

Manche Kinder haben das Glück, mit ihren Familien in den Urlaub zu fahren oder sogar zu fliegen. Wenn sie zurück nach Hannover kommen, erzählen sie begeistert von ihren Erlebnissen. Für viele unserer Kinder ist das oft schwer - sie verbringen die Ferien zu Hause, können nicht wegfahren und fühlen sich dadurch benachteiligt. Das führt nicht selten zu Frust, Traurigkeit oder Neid. Genau hier setzt das Sommerferienprogramm der drei Offenen-Tür-Einrichtungen in Linden-Nord an - dem GFA e. V., dem Domino Kindertreff und dem Spielhaus. Die täglich stattfindenden Angebote sind in einem Programmheft aufgeführt. Jeden Morgen entscheiden die Kinder selbst, ob sie mitkommen möchten. So erleben die Kinder vier abwechslungsreiche, spannende Wochen, die in Erinnerung bleiben. Die Ausflüge und Aktionstage im Spielhaus stärken dabei das Gruppengefühl. Trotz des offenen Konzepts entsteht ein echtes "Wir"-Gefühl. Die Kinder wachsen als Gruppe zusammen. Gemeinsame Erinnerungen entstehen. 

Ohne diese Ferienprogramme - auch die kleineren in den Oster- und Herbstferien - würden viele Kinder die freie Zeit vor dem Fernseher oder mit dem Handy verbringen. In jedem Fall hätten sie keine aufregenden Geschichten zu erzähle. Mit dem Programm dagegen sammeln sie echte Erfahrungen, die sie nach den Ferien mit Freude in der Schule erzählen können.  

Bonk: Die Ferienfreizeiten und Ferienprogramme haben vor allem ein Ziel: Kindern und Jugendlichen positive Erlebnisse zu ermöglichen. Viele Kinder, die das Kinderzentrum besuchen, stammen aus Familien, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Für sie ist es oft nicht möglich, in den Urlaub zu fahren oder gemeinsame Ausflüge zu unternehmen. Ihr Alltag ist häufig von fehlender Zuwendung, unstrukturierten Tagesabläufen und negativen Erfahrungen bestimmt. Ihre Freizeit ist von starkem Medienkonsum geprägt. 

 Während der Ferienfreizeiten, die wir Dank der Unterstützung von Stiftungen anbieten können, erleben sie dagegen Gemeinschaft, feste Strukturen und Erfolge - besonders im Spiel- und Sportbereich. In Gesprächen mit ehemaligen Besucher:innen zeigt sich immer wieder: Es sind vor allem diese Erlebnisse, an die sie sich auch Jahre später noch gerne erinnern. 

Was hat sich in den letzten Jahren verändert - besonders seit der Pandemie? 

Bonk: In den letzten Jahren, besonders seit der Corona-Pandemie, haben wir deutliche Veränderungen bei den Kindern wahrgenommen. Viele sind heute schneller demotiviert, wenn es um gemeinsame Aktivitäten oder kreative Angebote geht. Sie wollen häufiger einfach nur ‚chillen‘ oder Zeit mit dem Smartphone und sozialen Medien verbringen.  

Dabei ist uns wichtig zu betonen: Das Kinderzentrum war während der gesamten Pandemie durchgehend geöffnet - keinen einzigen Tag geschlossen, selbst als Spielplätze offiziell nicht genutzt werden durften. Wir haben kreative Lösungen gefunden, um für die Kinder da zu sein, ihnen Struktur und Begegnung zu ermöglichen.  

Taubensee: Während der Pandemie ist uns eine Kindergeneration sozusagen verloren gegangen. Die sind während der Schließungen aus dem Spielhausalter "rausgewachsen”. Jetzt müssen wir Kindern und Eltern immer noch neu erklären, was wir eigentlich tun. Dass unsere Türen offen stehen, dass es nichts kostet, dass man einfach so kommen darf. Auch der Medienkonsum hat sich verändert. Sechsjährige reden über Serien wie Squid Game, die ganz klar nur für Erwachsene sind - deshalb sind wir hier bewusst medienfrei. Wir reden mit den Kindern und auch den Eltern darüber, warum das für Kinder und Jugendliche nicht in Ordnung ist, versuchen ein Bewusstsein zu schaffen. 

Was wünschen Sie sich für die Zukunft Ihrer Arbeit? 

Taubensee: Mehr Zeit für die Kinder. Und dafür braucht es mehr Personal. Ab 2025 bekommen wir zum Glück bereits geteilte Unterstützung. Eine neue Kollegin wird mit einer halben Stelle in beiden Einrichtungen sein. Dadurch können wir auch reine Mädchen- oder Jungengruppen anbieten. Und für die Kinder bedeutet das mehr Projekte, mehr Begleitung, mehr Möglichkeiten. Ich freue mich riesig, denn das zeigt auch wie groß unser Bedarf hier im Stadtteil ist. 

Bonk: Für die Zukunft meiner Arbeit wünsche ich mir vor allem mehr Zeit für die Kinder. Im Alltag fehlt diese Zeit oft, weil wir mit organisatorischen Aufgaben oder Personalmangel beschäftigt sind. Deshalb ist mein großer Wunsch, dass wir personell besser ausgestattet werden. Es braucht nicht nur mehr pädagogische Fachkräfte, sondern auch Unterstützung durch Psychologinnen, Therapeuten und andere Fachkräfte, die den Kindern auf unterschiedlichen Ebenen helfen können. 

Ein weiterer zentraler Punkt ist die Finanzierung: Es braucht mehr Mittel für Ausflüge, Freizeiten und besondere Aktionen. Diese Erlebnisse sind es, die den Kindern wirklich im Gedächtnis bleiben. Wenn ehemalige Kinder uns besuchen, sprechen sie selten über das Essen oder die Hausaufgabenhilfe. Stattdessen erzählen sie begeistert von den gemeinsamen Erlebnissen. Und dennoch braucht es auch eine Grundfinanzierung für den Mittagstisch, damit Kinder nicht hungrig in neue Abenteuer starten müssen.