Themen im Jahresbericht 2022:
Vorwort | Krieg in der Ukraine: Helfen als Betroffene | Ein neues Zuhause für Mensch und Tier | Mit Kindern über Krieg sprechen | Pandemie und Krieg: Seniorenberatung im Umbruch | Sprach-Kitas retten: Erfolgsprogramm auf der Kippe | Zehn Zusagen und #OutInChurch | Geschäftsjahr 2022 | Mitarbeitende erzählen | Wir sagen Danke!
Themen im Jahresbericht 2022:
Krieg in der Ukraine: Helfen als Betroffene
Tetiana Khomych arbeitet seit zwei Jahren in der Beratungsstelle Bildungsberatung Garantiefonds Hochschule. Nach einem abgeschlossenen Masterstudium in Deutsch, Literatur & Übersetzung kam sie vor zehn Jahren aus der Ukraine nach Deutschland, um zu promovieren. Über Umwege absolvierte sie stattdessen einen Master in Bildungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Erwachsenenbildung an der Leibniz Universität Hannover. Heute unterstützt sie junge Migrant:innen auf dem Weg zum akademischen Abschluss. Im Gespräch verrät sie uns, wie sie den Überfall auf ihr Heimatland erlebt hat und wie sie hilft, obwohl sie selbst betroffen ist.
„Leute, die ich nur entfernt kannte, meldeten sich, weil sie helfen wollten."Foto: Andrea Seifert
Im Gespräch mit Tetiana Khomych
Tetiana Khomych im GesprächFoto: Andrea Seifert
Wie haben Sie den 24. Februar 2022 persönlich erlebt?
Ich bin aufgewacht und sah zuerst eine Nachricht von einem Freund: „Tut mir leid, dass ich dir nicht geglaubt habe.“ Vielen war klar, dass es eine weitere Eskalation geben wird, aber einen offenen Krieg hielten die meisten für ausgeschlossen. Ich lese die Nachricht und stehe unter Schock. Mit zittrigen Händen versuche ich meine Familie zu erreichen. Was natürlich nicht geklappt hat. Nach und nach wurde klar, dass Funkmasten gezielt abgeschossen wurden, um die Kommunikation zu erschweren und Panik zu schüren. Als ich irgendwann sicher war, dass die engste Familie sicher ist, versuchte ich Freunde zu erreichen. An diesem Tag bin ich davon ausgegangen, dass es in wenigen Tagen die Ukraine als Staat nicht mehr geben wird. Viele haben so gedacht. Zum Glück hatten wir unrecht. Was danach kam - also den restlichen Februar und März - kann ich nicht sagen. Meine Erinnerung geht erst im April weiter.
Wie war der Kontakt in die Ukraine nach Kriegsausbruch?
Die wichtigste Verbindung waren soziale Medien. Ich habe immer wieder nachgesehen, wann meine Angehörigen zuletzt online waren. Jedes Lebenszeichen war unendlich wertvoll, auch wenn die Erleichterung nur kurz anhielt. Als ich meine Mutter erst am Abend des 24. Februars erreichen konnte, haben wir verabredet, dass sich die Familie alle zwei Stunden meldet.
„Es war ein Leben von Nachricht zu Nachricht ...“
Das Absurde war: Die haben versucht mich zu beruhigen. Dabei war ich ja hier in Sicherheit. Meine Familie wollte nicht direkt flüchten. Die Temperaturen waren weit unter null und mit kleineren Kindern zur übervollen Grenze zu fahren, hat nicht nur sie abgehalten. Es war ein Leben von Nachricht zu Nachricht, von Nachrichten zu Nachrichten.
Der Krieg in der Ukraine hinterlässt bleibende Spuren
Wie hat sich Ihre Arbeit seit Kriegsausbruch verändert?
Die ersten zwei Tage bin ich nicht zur Arbeit gegangen. Mein Team wusste auch erstmal gar nicht, wie sie mit mir umgehen sollen. Als ich wieder im Büro war, hat das aber gutgetan. Den ganzen Tag vor dem Liveticker zu sitzen und die Nachrichten zu verfolgen, macht einen krank. Die Arbeit hat wirklich geholfen. Da wurde ich gebraucht und konnte selbst helfen.
Im März kamen die ersten Geflüchteten bei uns an. Zuerst konnten wir diese Menschen nur beraten, aber nicht in die Förderung aufnehmen. Das Bundesministerium hat den förderbaren Personenkreis erst im April auf Geflüchtete aus der Ukraine ausgeweitet. Seitdem sind die Beratungszahlen in die Höhe geschnellt. Ich musste zum ersten Mal Gruppenberatungen mit bis zu zwölf jungen Menschen gleichzeitig durchführen. Fragen zum Bildungssystem, viele Familien kamen mit Sorgen, um die Zukunft ihrer Kinder.
„Den ganzen Tag vor dem Liveticker zu sitzen und die Nachrichten zu verfolgen, macht einen krank."Foto: Andrea Seifert
Sie unterstützen Menschen aus der Ukraine und sind selbst betroffen. Wie gehen Sie damit um?
Diese Doppelbelastung war mir zunächst gar nicht bewusst. Wir haben immer Menschen mit Fluchterfahrung unterstützt, das Thema Krieg war stets präsent. Wenn man plötzlich direkt betroffen ist, ändert sich der Blick. Wenn man weiß, dass ein Freund an der Front ist, mein Bruder eingezogen wird, mein Schwager in den Kampf ziehen könnte. Ich konnte die Sorgen der Hilfesuchenden also sehr gut nachvollziehen. Nach der eigentlichen Beratung kam häufig die Frage „Kann ich Ihnen noch etwas erzählen?" Da kamen Dinge auf, bei denen ich nicht wusste, wie ich damit umgehen soll. Ich habe immer wieder betont, dass ich keine Therapeutin bin aber für viele war ich die erste Helferin, die ukrainisch spricht. In dem Moment konnte ich das nicht unterscheiden: Wo hört die Privatbelastung auf und wo fängt die Arbeitsbelastung an?
Eines Tages rief mich eine minderjährige Sprachkursteilnehmerin an und war komplett aufgelöst. Ihr Vater wurde getötet. Ich war überfordert. Da wurde mir klar, dass es so nicht weitergehen kann. Der Caritasverband hat mir den Rücken gestärkt. Mir wurde Supervision angeboten, um etwas Distanz zu gewinnen. Die Hilfe ging bis zu Herrn Dr. Schubert. Aber überhaupt die Frage zu stellen, um Hilfe zu bitten, das kam mir vorher nicht in den Sinn.
Wie hat Ihnen die Supervision geholfen?
Ich habe gelernt Ressourcen aufzubauen, die mich unterstützen. Einen klaren Beratungsablauf vorzugeben war der wichtigste Schritt. Ich musste direkt deutlich machen, dass ich für alle seelischen Belastungen die falsche Ansprechpartnerin bin.
Es ist schließlich auch für die Hilfesuchenden wichtig zu hören: Das ist nicht der richtige Ort, aber ich kann Ihnen Stellen aufzeigen, wo Sie weiterführende Hilfe erhalten. Auch außerhalb der Arbeit musste ich mich zurücknehmen. Ich war früher aktiv im ukrainischen Verein. In letzter Zeit habe ich mich bewusst rausgezogen. Viele Menschen dort kannte ich aus der Beratung. Ich wusste, wenn ich mich dort weiter engagiere, verwischen sich die Grenzen.
„Geschockt hat mich, dass wir seit 2015 kaum dazugelernt haben. Die Kinder sitzen in den Schulen und werden sprachlich kaum unterstützt.“
Wie hat die Situation Ihre Perspektive auf soziale Arbeit allgemein und die Menschen, denen Sie helfen verändert?
Im Grunde wurde meine Grundhaltung bestärkt. Man darf Menschen nicht als Fall betrachten. Durch die eigene Betroffenheit habe ich meine Arbeit auch stark hinterfragt. War ich gegenüber Menschen, die aus Syrien oder dem Jemen geflüchtet sind, empathisch genug? Aber auch was unser Projekt angeht: Bisher gilt unsere Arbeit nur als „Erfolg“, wenn wir Menschen zu einem Studienabschluss verhelfen. Durch die Nähe zum Heimatland gehen viele junge Leute wieder zurück in die Ukraine. Da müssen wir komplett anders rangehen.
Geschockt hat mich, dass wir seit 2015 kaum dazugelernt haben. Die Kinder sitzen in den Schulen und werden sprachlich kaum unterstützt. Da sitzen junge Menschen mit klaren Zielen, die studieren wollten. Die sitzen im Politikunterricht und niemand erklärt ihnen irgendwas. Ich hatte so viele von ihnen weinend in meiner Beratung, die das Gefühl hatten, ihre Zukunft zieht an ihnen vorbei. Es betrifft sicher nicht jede Schule, aber das sollte gar nicht passieren. Ich habe erwartet, dass das Bildungssystem mittlerweile besser aufgestellt wäre.
Für Tetiana Khomych ist es wichtig im Heute zu leben, aber auch positiv an Morgen zu denken.Foto: Andrea Seifert
Was hat Sie seit Kriegsbeginn besonders beeindruckt?
Die große Unterstützungsbereitschaft von allen Seiten. Leute, die ich nur entfernt kannte, meldeten sich, weil sie helfen wollten. Direkt nach Kriegsausbruch haben sich Mitarbeitende des Verbandes mit Unterstützung der Geschäftsleitung auf den Weg an die Grenze gemacht. Auch dort war das sichtbar: Überall Menschen aus ganz Europa, die Hilfsgüter gebracht und Flüchtlinge abgeholt haben. Fast alles Privatpersonen, die handeln wollten. Menschen können eben doch zusammenhalten.
„Ich wünsche mir vor allem eines: Dass wir nicht aufhören darüber zu sprechen.“
Wie blicken Sie in die Zukunft? Was wünschen Sie sich?
Da lasse ich mich gern von ukrainischen Menschen anstecken. Viele sprechen bereits von Wiederaufbau und Zukunftsplänen. Es ist wichtig im Heute zu leben aber auch positiv an Morgen zu denken und aus der Geschichte zu lernen. Ich hoffe, dass dieser Krieg nicht weiter eskaliert und wünsche mir vor allem eines: Dass wir nicht aufhören darüber zu sprechen. Wie bei allen Krisen und wie auch beim Beginn des Konflikts 2014 rückt das Thema nach kurzer Zeit in den Hintergrund. Es sterben aber immer noch täglich Menschen in der Ukraine. Die Leute sind immer noch auf Hilfe angewiesen. Anhaltende Aufmerksamkeit ist gerade in Bezug auf Kriegsverbrechen wichtig. Nur weil die Nachrichten nicht mehr täglich berichten, ist der Krieg nicht vorbei. Hilfe und Spenden sind immer noch gefragt.
Ansonsten wünsche ich mir nur, dass der Krieg endlich aufhört.
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